Schneemangel und schmelzende Gletscher im Jahr 2022
Unser Science Alliance Mitglied Matthias Huss berichtet über die aktuellsten Gletschermessungen in der Schweiz und erklärt, wieso der Schneemangel den Gletschern schadet.
Schnee ist nicht nur der Stoff, aus dem die Träume von Ski- und Snowboardfans sind, sondern auch die Nahrung und ein lebenswichtiger Schutzschild für die Gletscher der Schweiz. Obwohl nur gut 2% der Landesfläche vom «ewigen» Eis bedeckt sind, gehören Gletscher unweigerlich ins Bild des Schweizer Hochgebirges. Wer die Berge liebt, kann sie sich kaum ohne den weiss leuchtenden Eispanzer vorstellen.
Das Klima ändert sich, die Gletscher schmelzen. Gemäss Prognosen werden selbst mit einem moderaten Anstieg der Lufttemperaturen bis Ende dieses Jahrhunderts über zwei Drittel des Eises verschwinden, bei fehlendem Klimaschutz sogar fast alles. Doch was ist die Rolle des Schnees beim Rückgang der Gletscher? Und wie sieht es aktuell, Stand Juni 2022, auf den Schweizer Gletschern aus?
Im Rahmen des Schweizer Gletschermessnetzes GLAMOS werden jeweils im April Messungen der Schneehöhe sowie der Schneedichte auf fast 20 Gletschern in allen Regionen der Schweiz durchgeführt. Diese dienen dazu, die Prozesse von Schneeanlagerung über den Winter sowie der Schmelze über den Sommer zu trennen. Somit kann ihr Einfluss auf den Gletscherrückgang einzeln analysiert werden.
Dramatische Situation der Gletscher im Frühling 2022
Unsere Beobachtungen im April 2022 zeigen in gewissen Regionen der Schweiz eine dramatische Situation in Bezug auf die Schneemenge auf dem Gletschereis: Im Süden der Schweiz betrug die Schneehöhe gemäss den Messungen teils deutlich weniger als die Hälfte der normalen Werte, dies besonders im Tessin, dem südlichen Wallis und dem Engadin. Auf grossen Gletscherzungen war das Gletschereis stellenweise schon Ende März sichtbar, was aussergewöhnlich früh ist. Natürlich stellte dies auch für Skihochtouren ein beträchtliches Risiko dar, da die Gefahr von Spaltenstürzen erhöht wird. In der Nord- und Westschweiz war die Schneesituation auf den Gletschern etwas weniger prekär, aber es lag dennoch klar weniger Schnee als normal. Über die ganze Schweiz betrachtet geht 2022 mit dem auf Gletschern schneeärmsten Winter der letzten Jahrzehnte in die Geschichtsbücher ein.Doch schadet der Schneemangel im Winter dem Gletscher tatsächlich? Ja, eindeutig! Doch die Zusammenhänge und Auswirkungen sind vielschichtig: Während eines trockenen und warmen Winters schmelzen die Gletscher trotz wenig Schnee nicht schneller – in grosser Höhe sind die Temperaturen zwischen November und März tief genug. Allerdings bedeutet eine dünne Schneeschicht einen schlechteren Schutz für das Gletschereis, sobald die Sommerwärme in die Alpen kommt. Wenn die natürliche Schutzschicht weg ist, beginnt das Eis zu schmelzen und der Gletscher verliert damit an Masse. Zusätzlich setzt ein sogenannter Rückkoppelungs-Effekt ein. Da dunkles Gletschereis viel weniger Sonnenstrahlung in die Atmosphäre zurückwirft, bleibt bei gleichen Temperaturen mehr Energie für die Schmelze. Damit wiegt es besonders schwer, wenn die Gletscher schon im Juni und Juli – also den Monaten mit der maximalen Einstrahlung – zu einem grossen Teil ausgeapert sind.
Im Frühsommer 2022 kamen noch zwei Effekte zum Schneemangel hinzu, die den Gletschern weiter zugesetzt haben. Schon im Mai legte sich die erste Hitzewelle über die Schweiz und jetzt ist die nächste über uns. Dies führt zu massiver Schmelze. Zusätzlich entfaltete die eindrückliche Schicht an Saharastaub, welche sich im März auf der Schneedecke abgesetzt hatte, ihre volle Wirkung. Der «dreckige» Schnee reflektiert deutlich weniger Sonnenstrahlung und schmilzt daher schneller.
Schnee- und Gletscherschmelze einen Monat früher
Unsere letzten Gletscher-Messungen zeigen: Die Situation entspricht in der ersten Juni-Hälfte derjenigen von Mitte Juli, teils sogar August, in einem normalen Jahr. Schnee- und Gletscherschmelze sind ihrem Fahrplan also über einen Monat voraus. Wenn nun kein sehr kühler und wechselhafter Sommer folgt, sind wir damit auf dem Weg zu einem neuen, einem weiteren Extremjahr für die Gletscher. Leider passt dies nur zu gut zu den veränderten Klimabedingungen, wo Wetterkapriolen – sei dies Hitze, Starkregen oder Trockenheit – immer häufiger werden. Dies hat entscheidende Konsequenzen für die Bergwelt, unseren Erholungsraum und damit auch unsere Lebensgewohnheiten.